eine erweiterte Perspektive auf die menschliche Natur und deren Entwicklung
Als Menschen, die daran arbeiten, die menschliche Entwicklung voranzutreiben, träumen die meisten von uns von einer Welt des Friedens und des Wohlstandes und arbeiten dafür. Wir setzen unsere Leidenschaft, unsere Energie und unsere Ressourcen in die Formulierung und Umsetzung von Richtlinien und Programmen sowie in unsere Arbeit als Ganzes ein. Doch gibt es ein Thema, das die Entwicklungsbemühungen tiefgreifend prägt, aber selten in den Diskurs eintritt, nämlich die Frage nach der menschlichen Natur. Auch wenn wir uns dieser Frage vielleicht nicht bewusst sind, liegt sie im Zentrum unseres Entwicklungsansatzes – der Art und Weise, wie wir ihre Ziele und Parameter definieren und wie wir eine Vision des menschlichen Fortschritts formulieren.
Die komplexe Frage der menschlichen Natur zeigt sich unter anderem in der folgenden Herausforderung: Einerseits arbeiten wir daran, eine friedlichere, gleichwertigere und gerechtere Gesellschaft zu schaffen; Auf der anderen Seite klammern wir uns vielleicht unbewusst an der Vorstellung von Menschen als grundlegend egoistische, wetteifernde Wesen, deren Glück am besten durch den Erwerb materieller Mittel erreicht werden kann. Aber wir müssen uns fragen: Können grundsätzlich egoistische Menschen eine Gesellschaft erschaffen, die sich über den unerbittlichen Wettbewerb um materielle Ressourcen erhebt und die für eine solche Gesellschaftsordnung erforderliche Werte der Solidarität, Gerechtigkeit und Selbstlosigkeit vertritt?
Ich schlage vor, dass die Änderungen, die wir in der Entwicklungspraxis sehen möchten – die Änderungen, die die Relevanz und Wirkung dieser Bemühungen erhöhen – eine erneute Überprüfung unseres Verständnisses von der menschlichen Natur erfordert. Was ist die wahre Natur des Einzelnen? Was ist der Sinn unseres Lebens? Was sind die tiefsten Quellen menschlicher Motivation und Fähigkeit? Wie ist die Beziehung zwischen uns und unseren Mitmenschen, uns selbst und der Natur, uns selbst und unserem Schöpfer? Sind wir nur rein materielle Wesen oder sind wir etwas mehr? Ich glaube, dass jede Entwicklungsbemühung, ob bewusst oder nicht, die Antworten auf diese Fragen widerspiegelt.
Die vorherrschenden Vorstellungen von der menschlichen Natur bieten eine reduktionistische Perspektive. Die Theorie des „Wirtschaftsmenschen“ reduziert den Menschen beispielsweise auf wettbewerbsfähige, unersättliche Konsumenten von Waren und auf Objekte der Manipulation des Marktes. Zwar beginnen heute schon nachdenkliche Sozialwissenschaftler, diese Theorie zu erweitern, doch ihre materialistischen Annahmen prägen weiterhin das Entwicklungsdenken. Die Situation verschärft sich drastisch, wenn solche Modelle über die bloße Beschreibung hinausgehen und die Sozialpolitik bestimmen. So entsteht eine Schleife mit Rückkopplung, die sich selbst immer stärker antreibt: Unser Verständnis der menschlichen Natur normalisiert oder ermutigt eine Reihe von begleitenden Verhaltensweisen, die wiederum unser Aufrechterhalten dieses Modells verstärken.
Indem wir uns einer wachsenden Zahl von Stimmen anschließen, schlage ich vor, eine alternative Konzeption der menschlichen Natur zu untersuchen, die sowohl die materielle als auch die immaterielle – oder geistige – Dimension der menschlichen Erfahrung anerkennt. Das Materielle, oder was manche als die „animalische“ Natur bezeichnen, haben wir innerhalb von Millionen von Jahren physischer Evolution geerbt. Die spirituelle Natur ermöglicht es uns, unsere materiellen Bedürfnisse in angemessenen Grenzen zu verstehen und zu befriedigen, während wir uns über die Erfordernisse der bloßen tierischen Existenz erheben. Diese Annahme ermöglicht ein differenzierteres und vollständigeres Verständnis der Geschichte der Menschheit mit all ihren enormen Errungenschaften und ruinösen Handlungen. Eine Geschichte, in der sich Liebe, Selbstlosigkeit und Schönheit neben Grausamkeit, Egoismus und Unterdrückung offenbart haben.
Eine Anerkennung der geistigen Dimension der menschlichen Natur veranlasst uns zu überlegen, wie Entwicklungsbemühungen unsere spirituellen Qualitäten fördern können. Dieses Verständnis erhöht unser Bewusstsein sowohl für die Mittel als auch für die Ziele der Entwicklung. Neben dem Fokus auf der Steigerung materieller Ressourcen und Kapazitäten von Einzelpersonen und Gemeinschaften beginnen wir die Ziele zu betrachten, auf die diese Bemühungen gerichtet sind. Auf diese Weise können wir den praktischen Ausdruck der Kohärenz zwischen der materiellen und der geistigen Dimension des menschlichen Lebens erkennen. Zum Beispiel Personen, die nicht nur ihr eigenes wirtschaftliches Wohlergehen anstreben, sondern auch die Vorurteile und Strukturen widerlegen, die die Ungleichheit aufrechterhalten; Führer, die nicht nur für die Fortschritte ihrer Wähler arbeiten, sondern auch den Versuchungen der Korruption widerstehen; und Gemeinschaften, die nicht nur genug produzieren, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern auch freiwillig ihren Verbrauch begrenzen, um eine ökologisch nachhaltigere Welt zu erreichen.
Meine Ausführungen sollten keinesfalls als eine Form der Askese angesehen werden. Es besteht kein Zweifel, dass Anstrengungen zur Förderung des menschlichen Wohlbefindens unseren materiellen Bedürfnissen entsprechen müssen oder dass wir unseren materiellen Komfort nicht genießen sollten. Die Befriedigung dieser Bedürfnisse allein führt jedoch nicht zu echtem Wohlergehen. Die Geschichte bestätigt dies – die größten Zivilisationen zeigten nicht nur materiellen Wohlstand sondern auch Eigenschaften der Einheit und Gerechtigkeit in ihrem Volk.
Diese Bemerkungen sind nicht als endgültige, maßgebliche Aussage zur menschlichen Natur gedacht. Vielmehr sie sind eine Einladung zu einem Gespräch, einer kollektiven Erforschung dieser grundlegenden und herausfordernden Fragen darüber, wer wir als Menschen sind. Wie können wir die geistige Dimension unseres individuellen und kollektiven Lebens entwickeln und fördern? Die Antworten auf diese und viele solcher Fragen liegen in unseren jeweiligen Glaubenstraditionen. Diese bieten einen guten Ausgangspunkt für unsere Untersuchung. Dies ist, weit von einer abstrakten philosophischen Übung entfernt, eine Einladung zu einer zeitgemäßen und äußerst praktischen Untersuchung. Ich glaube, es ist der Anfang eines transformativen Ansatzes der Entwicklungsarbeit, den wir die ganze Zeit schon gesucht haben.
***
Mit freundlicher Genehmigung von bic.org – Baha’i International Community – United Nations Office
NEW YORK – 30 April 2014 – Artikel von Ming Hwee Chong, Vertreter der Bahá’í International Community bei den Vereinten Nationen, basierend auf einem Vortrag während eines Forums zum Thema „Religion, Glaube und Entwicklung“ im August 2013.
Übersetzung Mazloum Media, Druck & Verlag, 2020