Reflexionen über das Hinscheiden von ‘Abdu’l-Bahá

von Sonjel Vreeland

Das Haus von ‘Abdu’l-Bahá in Haifa, Israel, wo Er am 28. November 1921 gegen 1:00 Uhr morgens verstarb. Mehr als 10.000 Trauernde, die alle verschiedenen Religionen und ethnischen Gemeinschaften im Heiligen Land repräsentierten, nahmen an seiner Beerdigung teil.

Bei der Gedenkfeier im Jahr 2012 zum hundertsten Jahrestag von ‘Abdu’l-Bahás Besuch in Montreal erlebte ich etwas Tiefgreifendes bei einer Veranstaltung in der St. James Methodist Church – dem letzten Ort, an dem der Meister während seines kurzen Aufenthalts in Montreal öffentlich sprach. Der derzeitige Pastor sprach über die bewundernswerten Eigenschaften von ‘Abdu’l-Bahá und die vereinigende Wirkung seines Besuchs. Ich habe noch nie eine Autoritätsperson einer anderen Religion in ihrer eigenen Kirche diese Ursache so liebevoll loben sehen. Ein Gefühl der Einheit zwischen der Gemeinde der Kirche und allen besuchenden Bahá’í war spürbar. Ich dachte, so muss es 1912 gewesen sein!

Historische Berichte über das Leben des Meisters sind voll von ähnlichen Verherrlichungen und Ausdrücken der Freundschaft. Überall, wo er hinging, lobten ihn bedeutende religiöse Führer öffentlich, und die Menschen vereinten sich in ihrer Liebe zu ihm. Vielleicht am bewegendsten ist die Symphonie der Huldigungen nach seinem Tod am 28. November 1921 und die gemeinsame Trauer, die alle über seinen Verlust empfanden. In seiner Biografie über das Leben des Meisters schreibt Hasan Balyuzi:

„In dem Lande, das wir als das Heilige Land kennen, gab es während der ganzen letzten zweitausend Jahre seiner turbulenten Geschichte kein Ereignis, das alle Einwohner, wie verschieden ihr Bekenntnis, ihre Herkunft und ihre Absicht auch war, in ihren Gefühlen und Gedanken so vereinigte wie das Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahás. Juden und Christen, Muslime und Drusen aller Überzeugungen und Bekenntnisse, Araber und Türken, Kurden, Armenier und andere Volksgruppen waren in der Trauer um Seinen Abschied, im Bewusstsein des großen Verlustes, den sie erlitten hatten, vereint.“[i]

Balyuzis Buch ist eine Fundgrube an Informationen darüber, was in den Stunden und Tagen nach seiner Himmelfahrt geschah. Er zitiert ausführlich aus einem Bericht von Shoghi Effendi und Lady Blomfield namens „Das Hinscheiden ‘Abdu’l-Bahás“ und enthält diesen beschreibenden Abschnitt:

„Der Hochkommissar von Palästina, Sir Herbert Samuel, der Gouverneur zu Jerusalem, der Gouverneur von Phönizien, die höchsten Staatsbeamten der Regierung, die Konsuln der verschiedenen Länder mit Sitz in Haifa, die Oberhäupter der verschiedenen religiösen Gemeinschaften, die Notabeln von Palästina, Juden, Christen, Muslime, Drusen, Ägypter, Griechen, Türken, Kurden, Scharen Seiner amerikanischen, europäischen und einheimischen Freunde, Männer, Frauen und Kinder von hohem und niederem Stand, alle, etwa zehntausend an der Zahl, beweinten den Verlust ihres geliebten Herrn.“[ii]

Diese Menge von Trauernden wanderte die Hänge des Berges Karmel hinauf und trug die kostbaren Überreste des Meisters. Nach zwei Stunden Fußmarsch erreichten sie das Schrein des Báb, wo der Sarg auf einem mit weißem Leinen bedeckten Tisch abgestellt wurde. An diesem Punkt erhoben einige im Impuls des Moments, andere vorbereitet, ihre Stimmen in Lobpreisung und Bedauern, um ihre letzte Hommage an ihren Geliebten zu entrichten. So vereint waren sie in ihrer Anerkennung Seiner Rolle als weisen Erzieher und Vermittler der menschlichen Rasse in diesem verwirrten und traurigen Zeitalter, dass den Bahá’í nichts mehr zu sagen schien.

Shoghi Effendi schrieb auch über dieses schmerzliche Ereignis in seinem wegweisenden Werk „Gott geht vorüber“. Er enthält einen Bericht von Sir Ronald Storrs, dem damaligen Gouverneur von Jerusalem, der aussagte:

„Nie erlebte ich einen einmütigeren Ausdruck der Trauer und der Hochachtung als bei dieser äußerst schlicht gehaltenen Feier.“[iii]

Was auf die Beerdigung folgte, war charakteristisch für die liebevolle Großzügigkeit des Meisters. Shoghi Effendi schreibt:

„In der Woche nach Seinem Hinscheiden wurden täglich fünfzig bis hundert Arme aus Haifa in Seinem Hause gespeist, und in Seinem Namen wurde am siebten Tag unter etwa tausend von ihnen Getreide verteilt, unabhängig von ihrem Glauben oder ihrer Herkunft. Am vierzigsten Tag veranstaltete man zu Seinem Gedächtnis eine eindrucksvolle Feier, zu der über sechshundert Teilnehmer aus Haifa, ‘Akká und angrenzenden Gebieten Palästinas und Syriens geladen waren, darunter Beamte und namhafte Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Religionen und Volksgruppen. Auch an diesem Tag wurden über hundert Arme gespeist.“[iv]

Bei diesem Gedenkfest am vierzigsten Tag sprach einige Ehrengäste zu den Versammelten:

„Heil sei ‘Abbas, dem Stolz und dem Ruhm des Ostens, in einem Zeit, die durch Erkenntnis und Wissen Vorurteile schwinden lässt; ihm, der den Gipfel der Größe erreicht hat; ihm, dem Siegesflaggen winken; ihm, dessen Stern in Persien aufging, der sein Licht auf das Innere der Menschen ausstrahlte, dessen Zeichen sich in himmlischer Pracht vervielfältigt haben, bis er in vollem Glanz an unserem Horizont unterging; ihm, dessen Lehre die Menschen und Völker der Welt demütig macht, wie Baha selbst es vor ihm getan…“[v]

„Lasst uns denn in unseren Betrachtungen und Gedanken ihm unseren Tribut zollen. Obgleich ich euch neulich an seiner Schwelle bittere Tränen vergießen ließ, ist es doch jetzt meine Pflicht, euch zu bitten, euren Schmerz und eure Klagen einzustellen und eure Tränen versiegen zu lassen. Es ist wahr, Sir ‘Abbas ist körperlich von uns geschieden, aber er lebt weiter unter uns in seinem nie ermüdenden Geist und in seinen wunderbaren Werken. Wenn er auch von uns gegangen ist, so hat er uns doch ein ruhmvolles Erbe hinterlassen in der Weisheit seiner Ratschläge, der Redlichkeit seiner Lehren, der Wohltätigkeit seiner Werke, dem Beispiel seines kostbaren Lebens, der Erhabenheit seines Strebens, der Macht seines Willens, seiner Geduld und Seelenstärke und seiner Standhaftigkeit bis zum Ende.“[vi]

Jahre vor seinem Dahinscheiden enthüllte ‘Abdu’l-Bahá eine Tafel, die nun rezitiert wird, wenn man sein Heiligtum besucht, und von Bahá’í auf der ganzen Welt zur Erinnerung an seine Himmelfahrt gesprochen wird. Die Einleitung dieses Gebets lautet:

„Wer immer dieses Gebet demütig und inbrünstig spricht, wird das Herz dieses Dieners mit Freude und Glück erfüllen: Es wird sein, als begegne er Ihm von Angesicht zu Angesicht.“[vii]

Während ich mich bemühe, mit zunehmender Aufrichtigkeit, Hingabe und Lauterkeit zu beten, kann ich zugeben, dass das, was ich an jenem Gedenktag in Montreal erlebt habe, so wirkte, als wäre 1912 erst gestern gewesen.

Mit freundlicher Genehmigung von bahaiblog.net

Beitrag vom von Sonjel Vreeland

Übersetzung von Mazloum Media, Druck & Verlag, 2023


[i]     Hassan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá – Der Mittelpunkt, Hofheim 1984, Seite 642

[ii]    Hassan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá – Der Mittelpunkt, Hofheim 1984, Seite 661

[iii]   Shoghi Effendi, Gott geht vorüber 586, Auflage 6.03-Online (2021-06-12)

[iv]    Shoghi Effendi, Gott geht vorüber 589, Auflage 6.03-Online (2021-06-12)

[v]    Hassan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá – Der Mittelpunkt, Hofheim 1984, Seite 690

[vi]    Hassan M. Balyuzi, ‘Abdu’l-Bahá – Der Mittelpunkt, Hofheim 1984, Seite 691

[vii]   Gebete, Bahá’í-Gebete 295:1, Auflage 8.01-Online (2023-06-23)

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