Jahrzehnt für Menschenrechtserziehung der Vereinten Nationen

Schriftliche Erklärung zum Jahrzehnt der Menschenrechtserziehung der Vereinten Nationen, vorgelegt der UN-Menschenrechtskommission

 

Die Internationale Bahá’í-Gemeinde begrüßt rückhaltlos die Proklamation des Jahrzehnts für Menschenrechtserziehung (fortan “Jahrzehnt”). Wir glauben, dass zur Verwirklichung der Menschenrechte eine entsprechende Schulung unerlässlich ist. Aus unserer Sicht ist eine Erziehung, die Herz und Sinn jedes Menschen das Bewusstsein und das Gespür für die Menschenrechte einprägt, ein unentbehrliches Instrument, um die internationalen Menschenrechtsnormen zu untermauern und zu verwirklichen.

Wir begrüßen ganz besonders den Nachdruck, den die Menschenrechtskommission auf die Wichtigkeit eines ganzheitlichen erzieherischen Weges setzt. So drückt die Kommission z.B. in ihrer Resolution 1995/14 ihre Überzeugung aus, dass „Menschenrechtserziehung, formell oder informell, mehr beinhalten sollte als das Vermitteln von Informationen. Sie sollte einen umfassenden Vorgang auf Lebenszeit bilden, durch den Menschen aller Entwicklungsstufen und aller Gesellschaftsschichten die Achtung vor der Würde anderer anerkennen [z.B.] sowie die Mittel und Wege lernen, um diese Achtung in allen Gesellschaften sicherzustellen.“ Außerdem hat die Kommission die inspirierenden Worte des Artikels 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wiederholt, der verkündet: „Die Bildung ist auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu richten.“ (1)

Der vom Hochkommissar für Menschenrechte vorbereitete Aktionsplan spiegelt diese geschlossene Bildungsidee wider, indem er die Menschenrechtserziehung darstellt als „Ausbildungs-, Verbreitungs- und Informationsbemühungen, die eine weltweite Menschenrechtskultur aufbauen sollen durch die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten sowie  die Ausformung vonEinstellungen, die darauf abzielen:

a)      die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten zu stärken;

b)      die menschliche Persönlichkeit und den Sinn für deren Würde voll zu entfalten;

c)      Verständnis, Toleranz, Gleichheit der Geschlechter und Freundschaft unter allen Nationen, Urvölkern sowie rassischen, nationalen, ethnischen, religiösen und sprachlichen Gruppen zu fördern;

d)      eine wirkungsvolle Beteiligung aller Personen an einer freien Gesellschaft zu ermöglichen; und

e)      die Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Friedenssicherung zu unterstützen.“ (2)

Die Internationale Bahá’í-Gemeinde greift diese Zielsetzungen bereitwillig auf. Wenn Menschenrechtserziehung Erfolg haben will, muss versucht werden, persönliche Einstellungen und Verhaltensweisen zu wandeln und dabei in jeder lokalen und nationalen Gemeinschaft eine neue „Kultur“ der Achtung vor den Menschenrechten aufzubauen. Nur ein solcher Wandel in der grundsätzlichen Weltanschauung jedes einzelnen, ob Regierungsvertreter oder ganz gewöhnlicher Bürger, kann schlussendlich die weltweite Beachtung der Menschenrechtsprinzipien im täglichen Leben der Völker zustande bringen. Letzten Endes werden die Menschenrechte einer Person von anderen Personen respektiert und geschützt – oder verletzt -, selbst wenn diese in offizieller Mission handeln. Folglich ist unbedingt nötig, die Herzen aller Menschen zu berühren und ihr Verhalten zu verbessern, wenn die Menschenrechte nach dem Wortlaut des Aktionsplanes „von der Formulierung abstrakter Normen“ in die „Realität … sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Bedingungen“, die die Menschen täglich erleben, umgeformt werden sollen. (3)

Die Bahá’í-Lehren verfechten seit langem die Ansicht, dass sowohl sittliche als auch intellektuelle Erziehung unentbehrlich sind, um dem Menschen seine ganzen Kräfte bewusst zu machen, mit denen er als Mitglied einer sozial und geistig fortschrittlichen Gemeinschaft seinen Beitrag leisten kann. Bahá’u’lláh, der Stifter des Bahá’í-Glaubens, verkündete: „Der Mensch ist der höchste Talisman. Der Mangel an geeigneter Erziehung hat ihn jedoch dessen beraubt, was er seinem Wesen nach besitzt.“ Des Weiteren hat Bahá’u’lláh geraten: „Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschätzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schätze enthüllt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag.“ (4)

Die nach Bahá’í-Ansicht erforderliche Erziehung, die des Menschen Sinn und Geist bereichert, muss auf die Entwicklung jener fundamentalen sittlichen Tugenden wie Wahrhaftigkeit, Höflichkeit, Großzügigkeit, Mitgefühl, Gerechtigkeit, Liebe und Vertrauenswürdigkeit ausgerichtet sein, deren Auswirkung im täglichen Leben der Menschen imstande sind, harmonische, leistungsfähige Familien und Gemeinschaften zu schaffen und deren Mitgliedern den Genuss der Grundrechte ausnahmslos zu gewährleisten. Außerdem muss eine solche Erziehung mithelfen, jeden einzelnen mit einem klaren, emotional verwurzelten Bewusstsein von der elementaren Einheit der Menschheit zu durchdringen. So wie die Menschen damit beginnen, sich gegenseitig als Mitglieder einer Menschheitsfamilie anzusehen, werden sie bereit sein, negativ gebildete Klischeevorstellungen zu verwerfen. Sie werden damit beginnen, Menschen anderer ethnischer Gruppen, Nationalitäten, Klassen und Glaubensrichtungen eher als potentielle Freunde statt als Bedrohung oder Feinde zu betrachten.

Die als Teil des Jahrzehnts eingesetzten Schulungsprogramme sollten auch ein größeres Verständnis dafür fördern, dass zu jedem Recht eine entsprechende Verantwortlichkeit gehört. Das Recht, vor dem Gesetz als Person anerkannt zu werden, beinhaltet z.B. die Verantwortlichkeit des Gehorsams gegenüber dem Gesetz, um sowohl das Gesetz wie das Rechtssystem gerechter zu machen. Ebenso bringt im sozioökonomischen Bereich das Recht zur Verehelichung die Verantwortung für den Unterhalt der Familieneinheit, die Erziehung der Kinder und die respektvolle Behandlung aller Familienmitglieder mit sich. Das Recht auf Arbeit kann von der Verantwortung, Pflichten nach bestem Können zu erfüllen, nicht getrennt werden. Im weitesten Sinne verlangt der Begriff „allgemeine“ Menschenrechte die Verantwortung gegenüber der Menschheit als Ganzem. Dieses Wechselspiel zwischen Rechten und Verantwortlichkeiten wurde vor etwa 50 Jahren im Artikel 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte anerkannt, und es wurde im Aktionsplan neu bekräftigt. (5) Dementsprechend sollte die Menschenrechtserziehung sich darauf konzentrieren, die Verbindung zwischen Rechten und Pflichten im Bewusstsein der Menschen zu entwickeln und klarzustellen, dass jeder von uns für den Schutz der Rechte unserer Mitmenschen persönlich mitverantwortlich ist.

In ihrem aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen veröffentlichten Statement „Wendezeit für die Nationen“ rief die Internationale Bahá’í-Gemeinde dazu auf, eine weltweite Kampagne zur Förderung ethischer Erziehung zu starten. (6) Wir Bahá’í sind der Meinung, dass ethische Schulung unerlässlich ist, wenn eine „Universale Menschenrechtskultur“, wie der Aktionsplan sie sich vorstellt, Wirklichkeit werden soll. Da die ethische Grundstruktur des Menschen in ganz frühem Alter ausgebildet wird, unterstützen wir nachdrücklich die Forderung des Aktionsplanes, mit der Menschenrechtserziehung schon in der frühen Kindheit zu beginnen. (7) Wir ermutigen die Regierungen und Nichtregierungsorganisationen – einschließlich religiöser Organisationen –, darüber nachzudenken, wie man eine Sensibilität für Menschenrechte, Einheit der Menschheit und Verantwortung anderen Menschen gegenüber in Schulungsprogramme für ganz kleine Kinder einbauen kann. Und da die Mädchen die Mütter und ersten Erzieherinnen der nächsten Generation sein werden, empfehlen wir außerdem, im Falle begrenzter Mittel für die Schulung den Mädchen den Vorrang einzuräumen.

Die Bahái-Schriften bekräftigen schließlich, dass die Religion das Hauptinstrument „zur Errichtung der Ordnung in der Welt und für die Ruhe ihrer Völker“ (8) ist. Wir sind überzeugt, dass religiöse Organisationen eine besonders wichtige Rolle spielen müssen, wenn die hier von uns beschriebene wertezentrierte Schulung ausgearbeitet und bereitgestellt wird. Deshalb begrüßen wir, wenn sie in den Aktionsplan ausdrücklich mit einbezogen werden.

In 173 Ländern arbeiten die Bahá’í-Gemeinden bereits an beidem. Sie fördern und stellen Schulungsprogramme zur Verfügung, aufgebaut auf dem Prinzip der Einheit der Menschheit, die Achtung für die Rechte anderer, ein Gespür für die Verantwortung gegenüber dem Wohlergehen der Menschheitsfamilie und die ethischen Merkmale, die zu einer gerechten, harmonischen und friedvollen Weltkultur beitragen, heranzubilden trachten. Die Bahá’í arbeiten mit Hingabe an der Ausrottung jeder Art von Vorurteilen – auch den auf Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Geschlecht oder Nationalität beruhenden –, weil dies ein wesentlicher Grundsatz ihrer Religion ist, aber auch weil diese Vorurteile Hass schüren und sonst gute Menschen veranlassen, ihren Mitbürgern deren Rechte vorzuenthalten. Die Bahá’í arbeiten in ihren Wohngemeinden am Aufbau dieser neuen Kultur und fördern dabei das vorrangige Ziel des Jahrzehnts, die weltweite Verwirklichung der Menschenrechte zu erreichen.

Die Internationale Bahá’í-Gemeinde möchte den Vereinten Nationen und den damit befassten Gremien der Mitgliedstaaten, die Lehrpläne für das Jahrzehnt ausarbeiten, gerne jede für sie nützliche Erkenntnis, die sie in eineinhalb Jahrhunderten Erfahrung beim Fördern der Achtung vor den Rechten aller Menschen gesammelt hat, zur Verfügung stellen.

 

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1. Resolution 1995/47 (3.März 1995) der Menschenrechtskommission

2. Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Aktionsplan für die UN-Dekade zur Menschenrechtserziehung, 1995-2004, Abschn. 2 (1995)

3. Aktionsplan, Abschn. 6

4. Bahá’u’lláh, Ährenlese 122, Bahá’í-Verlag 1980

5. Siehe Aktionsplan, Abschn. 21, der empfiehlt, dass die Öffentlichkeit „Ziel weitreichernder Informationen über Menschenrechtsbemühungen sei zu dem Zweck, sie über ihre Rechte und Verantwortlichkeiten im Rahmen der internationalen Menschenrechtsmittel aufzuklären“.

6. Internationale Bahá’í-Gemeinde, Wendezeit für die Nationen. Ein Statement der Internationalen Bahá’í-Gemeinde aus Anlass des 50. Jahrestages der Gründung der Vereinten Nationen – (1995)

7. Aktionsplan, Abschn. 25

8. Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‚Akká 6:19, Bahá’í-Verlag 1982

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Mit freundlicher Genehmigung von bic.org – Baha’i International Community – United Nations Office

Genf – 15 März 1996

Anpassungen Mazloum Media, Druck & Verlag, 2020

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