von Victor Kulkosky
Erinnern Sie sich noch daran, wie die sozialen Medien einst ein neues Zeitalter der Vernetzung, des Gemeinschaftsaufbaus und einer erweiterten öffentlichen Sphäre durch den freien Austausch von Ideen versprachen?
Leider fällt es heutzutage schwer, in dem Heuhaufen aus aufgewiegelter Empörung und verbalen Angriffen, die die sozialen Medien durchdringen, jene Nadeln zu finden, die einst für ihre Versprechen standen.
Wie also könnten wir diesen toxischen Heuhaufen verkleinern und die wertvollen Nadeln vermehren?
Das Problem liegt nicht in der Technologie selbst. Wenn jemand einen Hammer als Waffe einsetzt, ist der Hammer nicht das Problem. Soziale Medien sind Werkzeuge zur Kommunikation; das Verhalten ihrer Nutzer ist entscheidend.
Höflichkeit: Der „Fürst der Tugenden“
Eine Lösung scheint fast zu einfach, um wahr zu sein: Höflichkeit. Dieses scheinbar altmodische Konzept birgt viel Potenzial. Bahá’u’lláh, der Prophet und Begründer des Bahá’í-Glaubens, beschrieb Höflichkeit als den „Fürsten der Tugenden“ und schrieb:
„O Volk Gottes! Ich ermahne dich, höflich zu sein, denn Höflichkeit ist vor allem anderen die Fürstin der Tugenden. Gut steht es mit dem, der vom Lichte der Höflichkeit erleuchtet und mit dem Gewande der Aufrichtigkeit bekleidet ist. Der mit Höflichkeit Begabte hat in der Tat eine erhabene Stufe erreicht.“ (1)
Laut Bahá’u’lláh ist Höflichkeit mehr als bloße gute Manieren. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Umgangs miteinander – und das gilt auch für jene, die wir nicht mögen oder auf die wir wütend sind.
‘Abdu’l-Bahá, Bahá’u’lláhs Sohn und Nachfolger, erweiterte diese Idee, indem er schrieb, dass die Höflichkeit nicht nur Beziehungen harmonisiert, sondern auch eine heilende Kraft darstellt, dass die vom göttlichen Geist erfüllt sind nach Einheit und Harmonie streben, sie Liebe und Güte ausstrahlen und für andere wie Wasser für die Durstigen, Brot für die Hungrigen und Heilung für die Leidenden sind:
„The highest wish of them that are filled with the Divine Spirit is unity and harmony amid the friends and spiritual connection among the hearts of the believers; that they may shine like unto brilliant stars in this darksome world, teach all the peoples of the world the mores of love, and show everyone kindliness and friendship, sympathy and courtesy; that they may become as refreshing water to every thirsty one, the bread of heaven to every hungry one, a healing medicine to every ailing one, and the cause of everlasting glory to every abased one.” (2)
Höflichkeit geht also weit über bloße Nettigkeit hinaus. Sie ist eine wesentliche Tugend, die notwendig ist, um die Welt zu heilen – von persönlichen Begegnungen über soziale Medien bis hin zur Politik.
Höflichkeit im digitalen Zeitalter
In den sozialen Medien ist es oft schwierig, diesen Standard zu erreichen. Die Plattformen scheinen darauf ausgelegt zu sein, das Schlechteste in uns hervorzubringen. Warum? Weil viele soziale Medien von gewinnorientierten Unternehmen kontrolliert werden, die erkannt haben, dass Empörung Menschen länger „engagiert“ hält und somit ihre Einnahmen erhöht.
Doch es muss nicht so bleiben. Wenn wir alle versuchen würden, das Bahá’í-Prinzip der Höflichkeit umzusetzen, könnten wir die Hitze reduzieren und mehr Licht in unsere sozialen Interaktionen bringen. Bahá’u’lláh schrieb über den Sucher:
„Nie darf er sich über einen anderen erheben wollen, jede Spur von Stolz und Dünkel soll er von der Tafel seines Herzens waschen. Er soll in Geduld und Ergebung harren, Schweigen üben und sich eitler Rede enthalten. Denn die Zunge ist ein schwelend Feuer, und zu viel der Rede ein tödlich Gift.“ (3)
Die sozialen Medien bieten uns eine Plattform, die weitreichende Auswirkungen haben kann – positiv wie negativ. Ein Moment des Nachdenkens, bevor wir posten oder antworten, kann den Unterschied ausmachen. Bevor wir uns in einen Kommentar stürzen, können wir innehalten und uns fragen: Ist dieses Thema wirklich wichtig? Ist dies der richtige Ort, um darüber zu sprechen? Und kann hier ein vernünftiger Austausch stattfinden?
Der wahre Wert der Höflichkeit
Höflichkeit ist keine Schwäche; sie ist Stärke. Es ist leicht, auf Provokationen mit Aggression zu reagieren. Doch Höflichkeit verlangt Disziplin und Selbstkontrolle. Sie bedeutet, unseren Umgang mit anderen von Liebe zur Menschheit prägen zu lassen.
Bahá’u’lláh fordert uns dazu auf, das Lästern, also „üble Nachrede“ zu vermeiden:
„üble Nachrede … verlöscht das Licht des Herzens und erstickt das Leben der Seele.“(4)
Wenn wir diese Prinzipien ernst nehmen und anwenden, können wir nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch in der realen Welt eine Veränderung bewirken. Meine Erfahrungen im Journalismus haben gezeigt, dass Höflichkeit Brücken baut, auch wenn Meinungen auseinandergehen. Es gibt höfliche und unhöfliche Arten, Meinungsverschiedenheiten auszudrücken. Die höfliche Art bringt uns weiter – sie gewinnt Respekt und öffnet Türen für einen echten Dialog.
Ein Weg in die Zukunft
Wenn die Algorithmen von sozialen Medien eines Tages erkennen, dass Höflichkeit und positive Interaktionen die Nutzer ebenso lange „engagiert“ halten wie Empörung, könnten wir das Potenzial dieser Technologie endlich ausschöpfen. Bis dahin liegt es an uns, den ersten Schritt zu machen – durch Höflichkeit, Respekt und Liebe.
Die Vision, die Bahá’u’lláh uns zeigt, mag hoch erscheinen, doch sie ist erreichbar, wenn wir sie konsequent verfolgen. Die Welt kann zu einem besseren Ort werden – und jeder von uns hat die Macht, dazu beizutragen.
.
.
Quellenangaben der Zitate
- Bahá’u’lláh, Botschaften aus ‘Akká 7:14, Auflage 3.04-Online (2023-09-12)
- ‘Abdu’l-Bahá, https://www.bahai.org/library/authoritative-texts/abdul-baha/additional-tablets-extracts-talks/852331108/1#747464074
- Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewissheit 213, Auflage 6.01-Online (2023-04-26)
- Bahá’u’lláh, Das Buch der Gewissheit 214, Auflage 6.01-Online (2023-04-26)
Victor Kulkosky vom 9. August 2023, mit freundlicher Genehmigung von bahaiteachings.org – Übersetzung Mazloum Media, Druck & Verlag, 2024
(Die in unseren Inhalten zum Ausdruck gebrachten Ansichten spiegeln individuelle Perspektiven wider und stellen nicht die offiziellen Ansichten des Bahá’í-Glaubens dar. Als offizielle Quelle weltweit dient z.B. bahai.org als Seite oder für Deutschland bahai.de)