Einige Gedanken zur Einheit von Geschwister

von Melanie Lotfali

Als ich ein Kind in der Grundschule war, wurde meine Mutter Bahá’í. Wir haben zwar als Familie gelernt, was es bedeutet Bahá’í zu sein, aber wir hatten keine bewusste Wahrnehmung für die Bedeutung der Einheit – insbesondere zwischen Geschwistern. Meine Schwester und ich haben uns viel gestritten und ich war oft sehr grausam ihr gegenüber als die ältere Schwester. Wenn wir zum Beispiel im Pool spielten und wir uns gegenseitig anspritzen, und ich irgendwann so stark spritze, dass ihre Augen vom Wasser und Chlor schmerzten, dachte ich mir nichts dabei, und ihr sichtliches Leiden hat mich vermutlich nur ermutigen härter zu spritzen.

1984 war ich 11 Jahre alt, als meine Mutter, meine Schwester und ich an der Einweihung des Tempels in Samoa teilnahmen. Es waren viele Bahá’ís im selben Hotel wie wir. Ich erinnere mich, wie ich mit zwei Kindern im Pool gespielt habe, die ich bis dahin noch nie zuvor getroffen hatte und seitdem dem nicht wieder gesehen hatte – obwohl ich hörte, dass sie in unserer Region leben. Wir jagten uns und bespritzten uns. Und über dreißig Jahre später erinnere ich mich noch immer an die tiefgreifende Auswirkung des Verhaltens dieser Kinder auf mich. Navid bespritzte seine Schwester Nava und sie hatten Spaß, aber dann kam ihr das Wasser in die Augen. Nava zeigte an, dass ihre Augen schmerzten und ihr Bruder hörte sofort auf und schwamm zu ihr hinüber, entschuldigte sich und überprüfte, ob es ihr gut ging. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Er verhielt sich im Umgang mit ihr genauso gütig wie mit mir (einem Fremden) oder seinem Lehrer oder mit irgendjemandem. Gütig war der einzige Weg, wie wusste sein zu können. Es war eine hochentwickelte Eigenschaft seiner Seele, keine Aufmachung, die je nach Umständen ein- und ausgeschaltet werden konnte.

‘Abdu’l-Bahá artikuliert die Eigenschaften, die wir entwickeln sollen, so dass es nicht nur Sein Wunsch ist, das dies auch das Wohlgefallen Gottes anzieht, das dies sogar Gottes Befehl entspricht, dass Bahá’ís in allen Angelegenheiten, auch bei kleinen täglichen Transaktionen und im Umgang mit anderen, in Übereinstimmung mit den göttliche Lehren handeln sollten. (1)

So und in unzähligen anderen Stellen, die uns zur Verfügung stehen, stellen wir fest, dass ‘Abdu’l-Bahá uns alle ermahnt, diese Eigenschaften ständig zu manifestieren. Er macht keine Ausnahmen. In unserer Gesellschaft herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dass es lobenswert ist, respektvoll und freundlich zu sein, aber wir normalisieren auch routinemäßig Respektlosigkeit und Unfreundlichkeit in bestimmten Gruppen. Wenn wir sehen, dass Jungen aggressiv oder gewalttätig sind und wir sagen, dass „Jungs sind Jungs“, normalisieren wir aggressives oder gewalttätiges Verhalten in einer bestimmten Gruppe von Menschen und akzeptieren es unkritisch. Wenn wir von respektlosem Verhalten bei Teenagern sprechen, als ob es ein fester Bestandteil dieser Lebensphase wäre, normalisieren wir respektloses Verhalten in einer Gruppe von Menschen und akzeptieren es unkritisch. Ich glaube und hoffe, dass Bahá’ís diese Ideen weniger wahrscheinlich annehmen als andere. Aber wenn es um Beziehungen zwischen Geschwistern geht, hat man manchmal das Gefühl, dass auch wir die Vorstellungen der Gesellschaft über „Ausnahmen“ annehmen. Das heißt, wir akzeptieren, dass es natürlich und unvermeidlich ist, unter Geschwistern Uneinigkeit, Respektlosigkeit und Unhöflichkeit zu haben. Wenn wir das glauben, haben wir wahrscheinlich eine hohe Toleranz dafür. Aber unsere Lehren scheinen diese Annahme nicht zu unterstützen. Bahá’u’lláh sagt: „Nichts, was es auch sei, kann an diesem Tage der Sache Gottes größeren Schaden zufügen als Zwietracht und Hader, Wortstreit, Entfremdung und Gleichgültigkeit unter den Geliebten Gottes.“(2)

Indem wir äußerst wachsam und haargenau Uneinigkeit ansprechen, wenn sie unter Geschwistern auftritt, können wir vermitteln, dass die Entwicklung geistiger Qualitäten für die Gesundheit unserer Seele wesentlich ist. Wir können vermitteln, dass es eine absolute Kohärenz zwischen unserem Verhalten in unserem Haus und unserem Verhalten außerhalb unseres Hauses geben muss. Wir können die Idee herausfordern, dass Höflichkeit, Respekt und Rücksichtnahme Dinge sind, die wir „nutzen, wenn wir sie brauchen“ oder wenn sie zum Vorschein kommen, dies Teil unseres „besten Verhaltens“ ist.

Jahre nach dieser Erfahrung am Pool in Samoa, als ich selber eine Bahá’í-Mutter wurde, wurde es mein Ziel, Kinder wie Navid und Nava zu erziehen – Geschwister, deren Beziehung von Respekt, Güte und damit Einheit geprägt sei. Einige der konkreten Wege diesem Ziel nachzugehen, waren die folgenden.

Erstens zeigten wir als Eltern eine sehr geringe Toleranz für Uneinigkeit. Jeder Streit um eine Socke, ein Spielzeug, eine Entscheidung wurde zu einer Gelegenheit für ein friedliches, fokussiertes Gespräch. Es begann damit, dass jedes Kind eingeladen wurde, die Erfahrung ohne Unterbrechung aus seiner Perspektive zu beschreiben. Manchmal waren die Versionen der Geschichten sehr unterschiedlich, aber als die Kinder reiften und sich dem Gespräch mit größerer Fairness und Loslösung näherten, stimmten die Versionen immer mehr überein.

Dann hatte jedes der Kinder die Möglichkeit zu identifizieren, was es selber anders hätte tun können, um sicherzustellen, dass es zur Einheit beitrug. Genau dem wurde im Anfangsstadium aktiv widerstanden und es war für jeden erst immer sehr einfach zu identifizieren, was der andere anders hätte tun können. Nach und nach konnte jedes Kind z.B. identifizierte, dass es in einem anderen Ton sprechen könnte, sprechen vor dem Nehmen, sich von der Situation zu entfernen, dem anderen Vorrang geben, oder ruhig auszudrücken was es wollte.

Wenn ein bestimmtes Kind nichts identifizieren konnte, was es anders hätte tun können, konnte das andere Kind Vorschläge machen – welche immer sprudelten!! Dieser Ansatz bietet die Möglichkeit, bereits in jungen Jahren Ausdruckskraft, Analyse und bewusste Entscheidungen zu treffen.

Zweitens war die Voraussetzung jeder lustigen Aktivität die Einheit. Wir könnten auf dem Weg zum Strand oder zu einem Picknick sein oder einen Freund zum Übernachten abholen – wenn die Einheit nicht erreicht und aufrechterhalten werden konnte – wurde die Aktivität abgesagt. Dies wurde nicht mit Wut getan oder als Bedrohung benutzt. Es wurde als einfache natürliche Konsequenz ausgedrückt. Wir könnten auf dem Weg zum Strand sein, als ein Streit ausbrach. Wir konnten anhalten und versuchen, uns auszusprechen und dann weiterfahren. Wenn die Uneinigkeit aufrechterhalten blieb, stoppten wir das Auto. Hielten dann am Straßenrand an. Dann sehr liebevoll, sehr ruhig und den Respekt an den Tag legend, den wir in den Kindern sehen möchten, erklären, dass „Einheit von ‘Abdu’l-Bahá geliebt wird. Unsere Entscheidungen, Worte und Verhaltensweisen tragen nicht zur Einheit bei und missfallen dem Meister. Wir gehen nach Hause.“

Drittens, wenn sie Dankbarkeit ausdrücken oder mir gefallen oder mir ein Geschenk geben wollten, bat ich um Einheit. In einem Jahr war mein Geburtstagsgeschenk ein unterschriebenes Versprechen, den ganzen Tag über die Einheit zu wahren.

Viertens würde ich mitten im Konflikt erklären „Du brichst mir das Herz!“. Zu der Zeit dachten die Kinder, es sei nur ein alberner und übertriebener Ausdruck, den ihre Mutter verwenden würde, aber Jahre später sagte Liza, die jetzt als Instituts-Koordinatorin arbeitet und sich ständig mit Kindern und Jugendlichen beschäftigt, dass sie merkt, dass es sich tatsächlich um ein wahres Gefühl handelt. Immer wenn sie Zeuge von Uneinigkeit unter den Jugendlichen wird, fühlt sie jetzt auch und erklärt „Du brichst mir das Herz!“.

 

Als ich im Heiligen Land ankam, als Jugendlicher zu meinem Jahr des Dienstes, vor 25 Jahren, war das erste Gebet, das ich jemals im Heiligen Schrein von Bahá’u’lláh gesagt habe, das um Vergebung, dafür wie ich meine kleine Schwester behandelt hatte. Wir stehen uns jetzt sehr nahe, aber ich wünschte, ich hätte meiner kleinen Schwester die gleiche Güte schenken können, die ich vielen anderen während meiner Kindheit entgegengebracht hatte.

 

  1. vgl. ‘Abdu’l-Bahá quoted by the Universal House of Justice, retrieved from https://www.bahai.org/library/authoritative-texts/the-universal-house-of-justice/messages/19800210_001/19800210_001.pdf (vom 10. Februar 1980)
  2. Bahá’u’lláh, Ährenlese

 

 

 

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Mit freundlicher Genehmigung von bahaiblog.net

Beitrag vom 03. September, 2020, von Melanie Lotfali  

Übersetzung und Überarbeitung von Mazloum Media, Druck & Verlag, 2020

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